Ein magnetischer Sturm



Den ganzen Tag rufen wir das Weltraumwetter mit dem Handy ab. Heute sieht es gut aus: Ein KP-Index von 5 ist vorhergesagt. Das bedeutet, wir werden aller Wahrscheinlichkeit nach ein Nordlicht sehen können. Schon früh am Abend verlassen wir das Haus. Rainer fährt in Richtung Tårnvik, um dort störungsfrei eine Nordlicht-Tonaufnahme machen zu können. Gunn-Marit und ich gehen an den Strand. Und tatsächlich: Über den Himmel spannt sich ein grüner Bogen, der auch mit bloßem Auge gut zu erkennen ist. Sterne funkeln durch die Lichtfäden, die sich immer wieder neu bilden. In der kalten, klaren Luft schimmern die hellen Streifen. Sie überkreuzen sich, tasten nach unten und verblassen dann wieder.


Wir holen das Auto und gemeinsam fahren wir über die dunkle Landstraße. Gunn-Marit schaltet die Scheinwerfer aus, so rollen wir, geleitet vom Nordlicht, die schmale Küstenstraße entlang. Nichts ist zu hören, außer das unter den Reifen zerberstende Eis, während der Himmel in Flammen steht. 
Bei Rainer angekommen, erfahren wir, dass er das Nordlicht zwar sehen kann, aber es bleibt still. Nichts ist von den Tönen zu hören, die wir die ganze Zeit aufgefangen haben. Das leise Singen der Elektronen bleibt aus. Ist es, weil die Nacht sternenklar ist, und nicht bewölkt, wie in den letzten Tagen? Wir wissen es nicht. Still genießen wir das Schauspiel der grünen Bögen, bis es Gunn-Marit und mir zu kalt wird. Wir fahren nach Hause und lassen Rainer an der Küste zurück.


Ich mache mir einen heißen Tee und lege mich ins Bett. Langsam schlafe ich ein, ich träume vom Nordlicht. Das Klingeln meines Telefons weckt micht. Es ist halb 12 Uhr in der Nacht. "Komm sofort raus", ruft Rainer, "geh sofort vor die Tür!" Verschlafen ziehe ich meine warmen Kleider an, Schal, Mütze, Handschuhe, dicke Socken, mehrere Lagen Unterwäsche, Jacke, Überhose, Schuhe - es dauert, bis ich schließlich aus dem Haus gehen kann. Ich schaue nach oben und kann es schlicht nicht fassen. Über dem Haus liegt eine riesige grüne Spirale. Das Nordlicht tanzt. Es verknotet sich in Schleifen und wehenden grünen Schleiern. Wie Puderzucker rieselt das Licht herab, es ist unbeschreiblich. Am Ende der Puderzucker-Ströme scheinen die Lichtfäden rot und weiß auf. Die Farben verblassen zu einem zarten Gelb, um dann plötzlich, wie in einer Explosion, zum satten Grün zurückzukehren. Der gesamte Himmel ist mit wirbelnden Schlieren bedeckt. Lichtstäbe manifestieren sich aus dem Nichts und rasen nach unten. Ich meine den Schein des Nordlichts beinahe körperlich spüren zu können. 


Dann verblasst der Himmel wieder. Es bleibt nur ein zarter grüner Schimmer zurück. Doch ich habe das Gefühl, das Nordlicht hat mich berührt. Beim Einschlafen meine ich seine Fäden zu spüren, die es weiter und weiter durch meinen gesamten Körper spinnt.

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