Dem Schnee beim Schmelzen zusehen


 

Was geschieht, wenn nichts geschieht? Unser durchgetaktetes Leben kommt hier zum Stillstand. Es gibt einfach gerade nichts zu tun, nichts zu entdecken, nichts zu erledigen.

 

Sonntag in Kjerringøy. Nach einem ausführlichen Frühstück ziehen wir uns Regenkleidung an und gehen ein wenig spazieren. Wanderwege gibt es hier nur einige wenige. Wenn man am Meer entlang gehen möchte, muss man über Felsen klettern und durch aufgeweichte moorige Wiesen gehen, auf denen eine Art Heidekraut wächst. Der Wind ist wieder stärker geworden. Weiße Gischtteufel reiten auf den Wellen draußen im Fjord. Nah am Ufer schaukelt eine rote Boje, die sich von einem Fischernetz losgemacht hat – ein leuchtender Farbfleck in der grau-braun-blauen Landschaft. Im aufgeweichten Schnee sehen wir Elchspuren. Über uns kreisen zwei neugierige Seeadler.

 

Auf dem Weg zurück laufen wir über die verwitterte Landstraße. Etwa jede halbe Stunde fährt ein Auto vorbei. Ansonsten ist es still. Der Schotter knirscht unter unseren Füßen. Gunn Marit erzählt, dass dieses Geräusch des Schotters auf einer trockenen Landstraße für sie als Kind Freiheit bedeutete. Die Freiheit, endlich wieder draußen herumlaufen und Radfahren zu können, nicht mehr untätig eingeschneit zu sein. Für mich war es als Kind genau umgekehrt. Wenn in meiner Kindheit endlich einmal Schnee fiel, dann bedeutete das, ich konnte Schlitten fahren. Bis zur Dämmerung war ich dann auf der Piste mit den anderen Kindern. Wir rodelten so lange, bis wir den Schnee auf dem Hang hinter unserem Haus verbraucht hatten, bis unsere Abfahrt grün war.

 

Auch am Abend geschieht nichts. Am Himmel sind dunkle Wolken, es regnet ohne Unterlass. Das Nordlicht strahlt über den Wolken, hier unten sehen wir es nicht. Unsere Pläne, Eisgeräusche aufzunehmen sind gescheitert – es ist kein Eis mehr da. Nachts höre ich den prasselnden Regen auf dem Blechdach der Scheune. Mein Bett fährt wie ein Schiff. Ich bin an Bord der Belgica, eingefroren im Packeis der Antarktis.

 

 

Dieses Foto der Belgica macht Amundsen in einer windstillen Nacht am Südpolarkreis. Die Belichtungszeit beträgt eineinhalb Stunden, die er regungslos neben seiner Kamera stehend  in der Eiseskälte verbringt. Amundsen fühlt sich wohl im Packeis. Die anderen Crewmitglieder klagen über Herzprobleme. In der Finsternis der Polarnacht schlagen ihre Herzen entweder viel zu schnell oder sehr langsam. Die Dunkelheit und das Nichtstun verändern den Rhythmus ihrer Körper.

 

Vor kurzem haben Wissenschaftler bewiesen, dass das Hirn das Herz schneller oder langsamer schlagen lassen kann. Zugleich wirkt sich aber auch der Herzschlag auf die Hirnaktivität aus, denn jedes Mal, wenn sich der Herzmuskel zusammenzieht, wird ein Teil der Hirnaktivität für kurze Zeit unterdrückt (Quelle: PNAS).

 

Herz und Hirn, die hin-und hergehen wie ein Pendel, geraten in der Nähe des Pols außer Kontrolle.

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