Und dann ist es plötzlich da


Sobald es hell geworden ist, fahren wir los. Am Meer nehmen wir das Rauschen der Wellen auf. Rainer klebt ein Kontaktmikrofon auf einen Stein. Die Aufnahme wird uns später zeigen, wie der Stein das Meer hört. Auf den Granitfelsen liegt Eis. Es sieht aus, als ob es langsam ins Meer fließt. Eine kalte, harte Decke, die sich eng an das Gestein schmiegt. Unter dem Eis bewegen sich Luftblasen langsam hin und her. In dieser Einsamkeit meint man, die Natur selbst atmen zu hören. Die Farbe des Meeres ändert sich ständig. Einen Moment ist es grau, um beim nächsten Hinsehen in ein strahlendes Hellblau zu wechseln. Dann wieder erscheint eine Wolke, aus der es zu regnen anfängt. Entlang des Regenschleiers fließen schwefelgelbe Sonnenstrahlen ins Wasser. Wir stehen still. Es ist die Landschaft, die sich bewegt. 
In einem kleinen Wäldchen folge ich einer Elchfährte, entdecke aber nur den Kot der Tiere, perfekte ovale Bällchen, die fast wie Samen aussehen. Später sehen wir die Elche auf der Straße.


Am Abend können wir es kaum erwarten, nach draußen zu kommen. Die Polarlicht-Vorhersage sieht gut aus. Leider befinden wir uns gerade in einem Zyklus, in dem die Sonnenflecken-Aktivität sehr gering ist und somit auch die Chance, Nordlichter zu sehen. Außerdem ist es bewölkt und der Mond ist beinahe voll. Keine besonders guten Voraussetzungen also. Aber wir wollen es probieren. Gunn-Marit hat mir einen Pullover geliehen, den ihre Mutter für sie gestrickt hat, aus warmer norwegischer Wolle. Dick eingepackt fahren wir zur Küste und bauen die Aufnahmegeräte auf. 


Wir löschen unsere Stirnlampen, denn jeder kleine Lichtstrahl kann das Nordlicht stören. Beim Blick in den Himmel sehe ich Sterne funkeln und den Mond. Flugzeuge ziehen hoch oben vorbei und hinterlassen schwache graue Kondensstreifen. Es knistert und knackt in meinen Kopfhöreren. Nichts Besonderes, nur entfernte Blitzentladungen. Zeit vergeht. Es wird kalt. Um uns Felsen und Dunkelheit. Auf einmal ein seltsames Heulen. Es ist ganz leise und kaum von dem Geknister der Blitze zu unterscheiden. Es ist, als ob eine sehr leise Stimme rufen würde, wieder und wieder. Aber vielleicht ruft sie auch nicht, sie atmet vielmehr. Als ob ein schwacher, hoher Ton geblasen würde. Die Stimmen nehmen zu. Danach verschwinden sie. Wolken ziehen auf. Und plötzlich ist es da.

 
Durch die Wolken stiehlt sich ein grüner Schein. Er ist fast nicht sichtbar. Das Licht rieselt herab, wie Regen, wie Nieseltropfen. Mit unseren Augen ist es kaum zu erkennen - erst die Kamera mit ihrer langen Belichtungszeit beweist uns, dass wir ein Nordlicht sehen. Und so zeigt das Foto nicht das, was wir gesehen haben. All die Filme und Fotos des Nordlichts, die ich schon angeschaut habe, haben mit dieser Erscheinung nichts zu tun. Wir können alles aus der Entfernung sehen: in Filmen, bei Youtube, auf Fotografien. Wir reisen mit Google an die entferntesten Orte. Auch ich habe mir Kjerringøy bei Google angesehen, aus der Luft, jeder Teil des Fjords in fast unheimlicher Präzision abgebildet. Ich blicke aus der Höhe auf die Phänomene herab. 
Dann bin ich wirklich dort und es ist ganz anders. Es ist nicht spektakulär. Es ist kalt. Es ist spät und ich bin müde. Mein Gehirn erzählt mir, was ich sehe, versorgt micht mit einem Strom von Informationen über die chemische Zusammensetzung der Atmosphäre und die daraus resultierenden Farben des Nordlichts. Die Gedankenströme sind stärker als die feinen Veränderungen des Lichts, sie rufen lauter als die zarte Stimme der elektrischen Entladungen, sie isolieren mich von den Felsen, vom Meer und der Eisluft. Sie schaffen eine Barriere zwischen mir und meiner Umgebung.
Diese Barriere gilt es aufzulösen, doch dazu muss man sich ein Stück selbst aufgeben. Zum Felsen werden, zum Meer, zur Wolke. Hören wie ein Stein, atmen wie ein Nordlicht, fühlen wie ein Stück Eis, das ins Meer fließt. Das wird meine Aufgabe sein die nächsten Tage.

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