Geschichten einsammeln


Beim Blick durchs Küchenfenster entdecke ich die kleine Rentierherde wieder, die seit Tagen äsend unser Haus umkreist. Mein Lieblingsrentier ist ein komplett weißes Kalb mit einem vorwitzigen schwarzen Ohr. Die Tiere sind nicht unbedingt gerne gesehen. Letztes Jahr fraß ein Rentier Gunn-Marits Erdbeerpflanzen ab, seitdem haben sie Hof-Verbot. Dass hier überhaupt Erdbeeren wachsen, haben die Einwohner Kjeringøys dem Golfstrom zu verdanken, der das Klima an der Küste verhältnismäßig mild macht. Reif werden die Beeren hier alle erst im Sommer. Dann gibt es einen Monat der Fülle, bevor der erste Schnee wieder einsetzt.


Ein Anruf bei Rent a Wreck ergibt nicht viel Substanzielles. "Zieht das Auto doch einfach an, dann startet es schon", ist die Auskunft. Gesagt, getan - Svein holt den Trecker raus und tatsächlich bekommen wir das Auto zum Laufen. Ich bin trotzdem ein bißchen beunruhigt, was wir machen, wenn wir an einer einsamen Küste liegen bleiben, wo gerade kein Trecker vorbeikommt.  


Nach einer Woche im Norden ist es Zeit, eine Bilanz zu ziehen. Als Südlicht bin ich in den Norden gekommen, fasziniert von den Phänomenen, die hier Alltag sind. Fragt man die Leute nach dem Nordlicht, sind sie ziemlich wortkarg. Was gibt es dazu schon zu sagen, hören wir oft. Sollte ein Wüstenbewohner zu uns kommen und nach Regen fragen, nach dem Zauber und dem Geheimnis des Regens - so könnten die Wenigsten ihm Auskunft geben. Es regnet halt, Punkt. Hier regnet es Licht und keiner findet daran etwas Besonderes. Was die Leute aber durchaus erzählen, sind Geschichten ihres Ortes. Dinge, die sich hier zugetragen haben. Per geht mit Rainer zum Strand. "Hier in der Hütte ist mein Onkel gestorben", sagt er, "den Blick aufs Meer gerichtet. Er saß so friedlich da, dass meine Tante, als sie ihn abholen wollte, dachte er schlafe nur." Bei meinen Recherchen stoße ich auf die Geschichte des letzten Heiden von Norwegen. Die örtlichen Gesetzeshüter fesselten ihn drei Sonntage hintereinander und zwangen ihn zum Kirchbesuch. Doch er wollte lieber alleine und unbehelligt vom christlichen Glauben auf seiner Insel leben. Als seine Zeit gekommen war, legte er sich in eine Felsspalte und wartete auf den Tod. Und jeder sagte: Das ist die richtige Art zu sterben. 


Die Knochen der Norweger sind untrennbar mit der Natur verbunden, die ihnen so viel abverlangt und der sie so viel zu verdanken haben. Können Rainer und ich uns auch in dieser Art verbinden? 
Es gibt da diesen Strom von Vorurteilen, wie es eigentlich im Norden sein müsste. Und dann sind wir hier und es ist ganz anders. Hier trifft Polar-Romantik auf Highspeed-Internet. Problemlos kann ich noch im gottverlassensten Fjord meine Mails checken. Dieser Blog kann nur entstehen, weil auch die abgelegensten Häuser mit dem Netz verbunden sind. Straßen führen hierher, die geräumt werden, im Supermarkt gibt es Limetten und Mangos - und das Gefühl, irgendwo weit weg zu sein, schrumpft zur Unkenntlichkeit zusammen. Doch dann ist es wieder da, wenn sich der Nebel um die Spitze des Strandåtind legt, wenn das Meer die Farbe wechselt, von eisblau zu grau, zu gelb, zu rosa, wenn die schrägen Sonnenstrahlen alles zum Leuchten bringen und wenn Regen auf den Boden fällt und sofort zu einem dicken Eispanzer gefriert. Dann bin ich an einem Ort angekommen, an dem ich noch nie war.


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